Thomas Reif - Geiger

01.11.2021
Alumnae & Alumni Stories
Thomas Reif | © Andrej Grilc

Thomas Reif ist Konzertmeister des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, als Solist und Kammermusiker tätig und hat seit Kurzem eine Professur für Violine inne. Neben der klassischen Musik widmet er sich gemeinsam mit dem Cuarteto SolTango argentinischen Tangos der 30er bis 50er-Jahre.

Thomas Reif:
Geiger

München

 

Sie spielen in unterschiedlichen Formationen und Genres. Was ist das Reizvolle daran?

Von außen wird das gerne so wahrgenommen, da ich ein klassisch ausgebildeter Geiger bin und Tango als eigenes Genre begriffen wird. Ich persönlich trenne das nicht so gerne. In der Art wie wir musizieren gibt es im Grunde keine großen Unterschiede. Daher versuche ich, die Genres nicht zu sehr zu trennen und keine Grenzen zu ziehen. Wir sind Musiker, welche Art der Musik man letztendlich macht, ist nicht so wichtig – viel wichtiger ist die Qualität.

Ich habe ein wenig das Gefühl, dass sich die Werdegänge junger Künstler*innen im Vergleich zu älteren verändern. Viele bewegen sich in meiner Wahrnehmung in unterschiedlichen „Genres“ und die Begriffe Interdisziplinarität und Multimedia tauchen immer öfter auf.

Die Karrieren haben sich über die Jahre natürlich verändert. Unsere klassischen Studien haben einen bestimmen Rahmen. Ein Studium braucht einen Lehrplan und eine Struktur, das geht zum Teil auch gar nicht anders. Die Frage ist, wie sehr man das aufbrechen kann. Man muss nicht gleich im ersten Semester des Bachelors eine Fuge von Bach spielen. Es gibt vieles, das man zuvor lernen sollte. Es ist wie der Vergleich einer Person, die in die Fahrschule geht und anstatt fahren zu lernen, sofort in ein Formel 1-Auto gesetzt wird. Aber natürlich kann man Studierende bereits im Studium mit Repertoire abseits des „Standardrepertoires“ konfrontieren. Es gibt viele andere Komponisten, die tolle und vielleicht nicht so tolle Musik geschrieben haben. Man muss möglicherweise weniger tolle Werke kennen lernen, um zu verstehen, warum Musik, beispielsweise von Mozart, so grandios ist. Für Musiker*innen stellt sich die Frage, ob man Stücke spielen will, wie es schon Jahrzehnte davor üblich war, oder ob man etwas Neues für sich finden will. Eine eigene Stimme sozusagen. Man kann unbekannte Werke spielen, kann selbst komponieren oder neue Stilrichtungen kreieren usw. An diesem Punkt komme ich zum Tango: Ich liebe diese Musik und als klassischer Geiger habe ich beim Tango den ungewohnten Vorteil, dass ich mir die Originale anhören und die Inspiration holen kann. Wir wollen allerdings nicht einfach nur das Original kopieren. Im Vergleich dazu kann man heute nicht schnell mal mit Bach telefonieren (lacht). Der zweite spannende Aspekt beim Tango ist, dass wir dem klassischen Publikum diese Musik näherbringen wollen. Wir spielen nicht ständig auf Tangofestivals, vielleicht einmal im Jahr. Zumeist spielen wir vor klassischem Publikum, das diese Musik zum allerersten Mal hört. Das ist ein tolles Gefühl. Wir interpretieren den Tango und können dem Publikum etwas Neues zeigen. Ein Stück für sich neu zu entdecken ist ein tolles Erlebnis! Es ist anders als die hundertste Interpretation eines bekannten Stückes. Diese Erfahrung habe auch ich erst nach meinem Studium gemacht. Für mich ist das ein Balanceakt, denn die Stelle im Orchester ist eine ganz klassische. Wobei ich weder das eine noch das andere missen möchte. Den eigenen Weg muss aber jeder für sich selbst finden.

Wie unterscheidet sich die Arbeit im Symphonieorchester von jener des Kammermusikers bzw. im Tango Quartett?

Natürlich ist die Musik sehr verschieden, aber in der Vorbereitung und musikalischen Ausübung gibt es eigentlich keine riesigen Unterschiede. Man will sich immer bestmöglich vorbereiten. Die offensichtliche Anzahl der Musiker*innen ist eine soziale Komponente. Im Quartett braucht man allerdings eine andere Eigeninitiative und organisatorische Fähigkeiten. Als freischaffender Musiker muss man mehr organisieren: Programmzusammenstellung, Proben, Auftrittsmöglichkeiten, Termine, Werbung, usw. Diese Fähigkeiten werden tatsächlich oft erst viel zu spät gelernt, wenn man sie im Studium nicht braucht und daher nicht trainiert. Der Lehrplan gibt vieles vor. Die Sensibilisierung dafür sollte aber tatsächlich schon früher beginnen.

In Ihrem Konzertkalender finden sich beispielsweise Konzerte mit Igor Levit und Alice Sara Ott. Alle Ihre Konzertpartner*innen befinden sich auf höchstem Niveau. Wie finden Musiker*innen für solche Konzerte zusammen?

Das passiert auf unterschiedlichen Wegen. Zum Teil sind das Freunde aus dem Studium und mit zunehmender Bekanntheit wird man auch angefragt. Manche werden aufgrund von Wettbewerben bekannter, weil sie zu Konzerten eingeladen wurden. Die Stelle als Konzertmeister trägt auch dazu bei. So habe ich Igor Levit kennen gelernt. Die eine oder andere Kooperation ist eine Folge daraus. Andere Musiker*innen lernt man beispielsweise auf Festivals kennen und mit der Zeit kennt „man“ sich in der Szene. Netzwerken ist natürlich wichtig und die Zusammenarbeit mit Freunden erleichtert einiges. Jeder arbeitet lieber mit Menschen, die er*sie gerne mag, vorausgesetzt das Niveau passt auch zusammen. Freie Kammermusikensembles werden selten per Auswahlverfahren zusammengestellt, bei festen Ensembles passiert das dagegen öfter.

Das bedeutet, man braucht nicht unbedingt eine Agentur, oder?

Ich persönlich habe keine, kenne aber viele, die eine Agentur haben. Am Ende meines Studiums habe ich mich auch um eine Agentur bemüht, da mir die Vorteile eines Netzwerkes bewusst waren und sich Agenturen unter anderem um diverse administrative Dinge kümmern. Dieses Ziel habe ich mit Antritt meiner Orchesterstelle nicht weiterverfolgt. Mein Terminkalender ist mit den beiden „Standbeinen“ gut gefüllt und ich vermisse derzeit nichts. Vielleicht wäre es anders, hätte ich die Orchesterstelle nicht. Möglicherweise haben sich sowohl die Agenturlandschaft als auch die Strukturen im Konzertwesen verändert. Eigenverantwortung ist in jedem Fall wichtig, egal ob mit oder ohne Agentur.

Ihr Werdegang liest sich so schön und geradlinig… aber ist es wirklich so einfach, da hinzukommen, wo Sie heute sind?

Nicht ganz (lacht). Meine Sinnkrise hatte ich im Masterstudium in Berlin. Ich hatte mir einen bestimmten Lehrer ausgesucht, da ich wusste, dass ich von ihm noch viel lernen kann. Das hat sehr viel Geduld und Kraft gekostet. Es war wirklich anstrengend. Wenn man Dinge verbessern will, muss man vieles aufbrechen und neu beginnen. Ich habe zu dieser Zeit auf Engagements, die ich zuvor schon hatte, verzichtet und nur mehr geübt. Ich hatte mich nicht mehr auf Dinge fokussiert, die gut liefen, sondern nur auf das, was weniger gut lief. So hatte ich das Gefühl, nicht mehr spielen zu können. Das war hart aber es gehört dazu und ich musste da durch. Ich kenne viele Musiker*innen, denen es ähnlich erging. Das kann früher oder später im Karriereprozess passieren. Wichtig ist, weiter zu machen.

Sie haben auch an Wettbewerben teilgenommen. Was ist heute an Wettbewerben für Künstler*innen attraktiv?

Ich selbst habe viele Wettbewerbe gespielt und mir damit immer wieder Ziele bezüglich des Repertoires oder einer Deadline gesetzt. Wie hieß es in der Pandemie so schön: „Ich brauche nicht mehr Zeit, ich brauche eine Deadline“ (lacht). Ich habe dadurch viel gelernt und auch viele andere tolle Musiker*innen aus der ganzen Welt kennen gelernt, mit denen ich zum Teil immer noch in Kontakt bin. Der Weg zum Wettbewerb war sozusagen das Ziel. Das Ziel, besser zu werden. Man darf nicht daran zerbrechen, wenn man nicht als Gewinner hervorgeht. Man muss sich bewusst sein, dass es viele Einflussfaktoren bei einem Wettbewerb gibt und nicht zuletzt ein wenig Glück dazu gehört. Vor allem gibt es viele sehr gute Musiker*innen in den Bewerben. Ein erster Preis ist heute auch keine Garantie für eine große Karriere. Das war früher vielleicht noch ein wenig anders, als es weniger Wettbewerbe gab. Vor einigen Jahren hatten die Preisträger*innen des ARD-Wettbewerbs noch einen Plattenvertrag mit der Deutschen Grammophon bekommen. Wenn ich Preise gewonnen hatte, gab es in der Folgesaison Konzerte u.a. mit Orchestern. Dabei kam ich herum, konnte mir einen Namen aufbauen. Das ist aber keine Garantie für eine Solistenkarriere. Dennoch sind Wettbewerbe wichtig, denn wie sonst bekomme ich als Studierender eine Bühne und entsprechende Aufmerksamkeit? Die Klassenabende werden nicht ausreichen. Es gibt jetzt viele neue Techniken und Medien, es wird sich zeigen, wie sich das weiterentwickelt. Heutzutage sind alle Wettbewerbe online vertreten, das birgt auch eine gewisse Gefahr. Ich weiß nicht, ob ich gewollt hätte, dass ab der ersten Runde alles online ist. Jede*r muss sich die Frage stellen, welches Ziel sie*er mit einem Wettbewerb verfolgt und nicht alles davon abhängig machen.

Was würden Sie Studierenden mit auf den Weg geben, wenn Sie an Ihre Studienzeit und den heutigen Arbeitsprozess denken?

Das Studium sollte zwei Seiten haben: Einerseits muss man sein Instrument bestmöglich lernen und viel Zeit investieren. Andererseits muss man für sich ein paar Fragen beantworten können: Was kann ich anders machen als die Generationen vor mir? Welche Art von Konzerten will ich spielen? Wie kann ich das Publikum begeistern? Man muss sich schon überlegen, warum das Publikum in die eigenen Konzerte gehen soll. Auch dafür muss man Zeit investieren. Hier beginnt das schwere Wechselspiel. Wie viel Zeit verbringe ich mit Social Media, Aufnahmen, Werbung etc. und wie viel Zeit investiere ich in die Musik und mein Instrument, um besser zu werden. Darüber hinaus darf man die sogenannten „Nebenfächer“ nicht unterschätzen. Ohne Basis und gewisse Grundbildung geht es nicht.

Was blieb aus der Studienzeit in besonderer Erinnerung? Wo hätte es noch ein wenig mehr sein dürfen?

Der Klassenaustausch war für mich immer sehr wichtig und schön. Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, dass die Bedeutung der organisatorischen Fähigkeiten Thema gewesen wäre.

Gibt es noch etwas was Sie uns mitteilen wollen?

Neben allen Ausbildungsschritten sollte man sich aktiv überlegen, was man mit der Musik machen will.

thomasreif.de

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