Kunst entsteht im Auge des Betrachters. Mit seinem provokativen 4’33“ machte der amerikanische Komponist John Cage schon in den 1950er-Jahren deutlich: Erst das Hören macht das Hörbare zur Musik. Sehen und Hören, Begreifen und Wertschätzen sind als zivilisatorische Errungenschaften zu verstehen. Der Komponist Jean Sibelius bringt es auf den Punkt: „Kunst ist die Signatur der Zivilisation.“ Der Umkehrschluss liegt nah: In Zeiten von Covid-19 verblasst diese Signatur, verliert die Zivilisation an Kontur. Und vielleicht erwachen wir nach einer langen Daseinsfristung als Bildschirmexistenzen in der „unendlichen Geschichte“ von Michael Ende: im Verblassen der Zivilisation und ihrer Imaginationskraft. Umso ermutigender sind die unzähligen Initiativen und Aktivitäten von Kunstschaffenden gegen das Verstummen und Verschwinden. Unterstützung finden sie in den Medien, der vierten Gewalt im Staat, die die dringend benötigte Wahrnehmung bestmöglich feiert und damit der verordnungsgemäßen Ausblendung der Kunst das Überleben anbietet. Denkmal! Auch unsere Sprache steckt voller Bilder und lässt aufhorchen, sie gibt Aufschluss über kurzfristiges Denken in Krisensituationen und das dahinterliegende Mindset. Die „Systemrelevanz“ etwa wirft gleich mehrere Fragen auf: Was meint „System“, ein Begriff, den man sonst eher in totalitären Staaten verortet, in diesem Zusammenhang? Und für den Fall, dass „System“ hier für Gesellschaft oder Gesundheit steht, was signalisiert uns der Ausschluss von Bildung und Kultur aus der „Systemrelevanz“? Dass Negativtests als positiv zu betrachten sind, wird wohl eher nicht in das Bildungssystem übernommen, und die Anglizismen Distance Learning, Homeschooling oder Homeoffice lassen sich nur mühsam ins Deutsche übersetzen: Heimarbeit klingt verstaubt, Dis- tanzlehre oder Distanzmodus stehen der Verinnerlichung oder Aneignung von Lerninhalten sprachlich entgegen.
Wir halten uns auf Distanz und zoomen uns in die Privatsphären hinein. Doch wie viel Nähe vertragen wir und wie viel Abstand brauchen wir? Zwischen Vereinsamung und Bloßstellung steht ein netter
Babyelefant als Pokémon-Figur. Wirklich? Schutzbedürftigkeit muss dringend neu ausgeleuchtet werden, denn es geht hier um die seelische Gesundheit unserer Gesellschaft und damit um ihre Zukunftsfähigkeit.
Im künstlerischen Prozess des Hörbarmachens von Zwischentönen und Stille, des Sichtbarmachens von Zwischenräumen und Leere, des Begehens von Gegenwelten und Abfragens von Gegenalgorithmen kann eine Rückeroberung von Welt stattfinden, die im Lärm des Krisenmodus ausgeblendet wurde. Wenn Goethe die Kunst als Vermittlerin des Unaussprechlichen hochhält, meint er genau das. Künstlerisches Schaffen, Kreativität, Kultur erweitern unsere Lebenswirklichkeiten und damit auch die Möglichkeit von Vielfalt in Gemeinschaften. Zudem bemerkenswert: Eine kürzlich veröffentlichte Studie zur Kultur- und Kreativwirtschaft vor und nach Covid-19, die von Ernst & Young in enger Zusammenarbeit mit der GESAC, einem Zusammenschluss von 32 europäischen Verwertungsgesellschaften, unter dem Titel „Rebuilding Europe“ veröffentlicht wurde, zeigt das wirtschaftliche Schwergewicht dieses Bereichs und das hohe Wachstumspotenzial, das in den Jahren 2013 bis 2019 sichtbar wurde. Mit einer Handelsbilanz von 8,6 Milliarden Euro (2019) und 7,6 Millionen Jobs ist bzw. war die K&K-Wirtschaft ein bedeutender Sektor. 2020 ist der Umsatz um geschätzt 31 Prozent eingebrochen, Theater (–90 Prozent) und Musik (–76 Prozent) sind weitaus am stärksten betroffen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die Krise massive und anhaltende Auswirkungen auf die gesamte Wertschöpfungskette der Kultur- und Kreativwirtschaft haben wird, und präsentiert einen Dreistufenplan, um die Herausforderung des „Rebuilding Europe“ zu meistern. Der Wiederaufbau dieses Bereichs bedeutet auch den Wiederaufbau unserer Zivilisation als normative Kraft unseres Selbstverständnisses. Die jetzige Generation an Studierenden muss an diesem Aufbau mitwirken, als Universität sollten wir ihr den Rücken stärken.
„Art is what you can get away with.“ – Andy Warhol
(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 1. März 2021)