Andreas Scholl: Ich bin kein Richter, sondern Lehrer

07.03.2020
Interview
Andreas Scholl

Andreas Scholl ist einer der besten und renommiertesten Countertenöre der Welt. Ein Gespräch über seine Stiftungsprofessur an der Universität Mozarteum, seine musikalischen Wurzeln und die ganz besonderen Momente seiner Karriere.

Herr Scholl, im Wintersemester 2019/2020 traten Sie eine der ersten von der Universität Mozarteum Salzburg vergebenen Stiftungsprofessuren an. Was haben Sie sich für die nächsten drei Jahre vorgenommen?

Andreas Scholl: Zunächst einmal ist die Herausforderung natürlich groß – die Universität Mozarteum gehört zu den Topadressen weltweit und es ist mir eine Freude und Ehre, die nächsten Jahre hier zu sein. Als momentan einziger Lehrer in der Sparte Barockgesang ist es für mich auch eine tolle Möglichkeit, Akzente zu setzen. Obwohl ich den Barockgesang nicht als etwas super Spezialisiertes sehe! Auch in den anderen Gesangsklassen sind wahnsinnig gute Sänger*innen, die sehr gut Barockmusik singen können. Gemeinsam werden wir etwas Schönes aufbauen. Auf die Konzerte dürfen Sie sich jetzt schon freuen!

 

Sie stammen aus einer sehr musikalischen Familie. Wie kann man sich den Alltag im Hause Scholl vorstellen? Gab es bei Ihnen „Barock zum Frühstück“?

Barock nicht, dafür umso mehr gregorianischen Choral. Das ist eine Tradition, die es in Kiedrich seit fast 700 Jahren gibt – den liturgischen lateinischen Choralgesang im sogenannten Mainzer Dialekt. Mit einer Sondergenehmigung des Vatikans wird er nur noch bei uns im Dorf gesungen. Mein Großvater, mein Vater, mein älterer Bruder – alle haben im Kiedricher Knabenchor gesungen. Meine Schwester, die jetzt Professorin in Mainz ist, war damals übrigens das erste Mädchen im Knabenchor. Wir hatten fast jeden Tag Gesangsstunde und ein Mal die Woche Stimmbildung bei einer Gesangspädagogin. Dass das ein unglaubliches Geschenk war, wurde mir allerdings erst im Nachhinein bewusst. Denn anders als etwa bei Pianist*innen, die sehr früh professionell gefördert werden, geschieht das beim Gesang meist erst im Teenageralter. Der Chor bietet zudem ein sehr natürliches, lebensnahes Umfeld. Denn wenn 30 andere um einen herum genau dasselbe tun, fühlt man sich nicht besonders, weil man singt. Man lernt eine gesunde Selbstauffassung, empfindet sich nicht als Solist*in, sondern als Teamplayer. Zu wissen, wann man anführt und wann unterstützt, sind nicht nur für Sänger*innen wichtige Eigenschaften, sondern für die Persönlichkeit im Allgemeinen.

 

Sie waren bereits ein renommierter Konzertsänger, als Sie 1998 Ihr Operndebüt feierten. Seither gastierten Sie immer wieder auf den größten Opernbühnen der Welt, u. a. in der Metropolitan Opera an der Seite von Renée Fleming. Konzert oder Oper – wofür schlägt Ihr Herz?

Mein Gesangslehrer hat einmal so schön zu mir gesagt, du bist nicht Sänger, sondern „a singing actor“, ein singender Schauspieler. Auf die Oper trifft das natürlich besonders zu und ich habe die Oper auch immer geliebt. Das Problem bei Opernproduktionen ist aber das, was es der Familie und dem Umfeld abverlangt. Für die Produktion von „Giulio Cesare“ musste ich neun Wochen nach Kopenhagen. Also habe ich einen VW-Bus vollgeladen und bin hochgefahren, während zu Hause das Leben weiterging. Es ist ein großes Opfer, das andere bringen müssen, damit man sich als Opernsänger*in verwirklichen kann. Dass das für mich nur beschränkt möglich ist, wurde mir schnell klar. So viel Freude mir die Oper auch bereitet, der Preis ist mir oft zu hoch. Zumal ich persönlich auch die Herausforderung eines Liederabends sehr mag. Egal ob es Lautenlieder, Lieder von Brahms, Haydn, Mozart oder Schubert sind – auch hier muss man Geschichten erzählen. Aber natürlich, wenn ein tolles Angebot für eine Oper kommt, wer weiß …

 

Sie haben bereits eine ganze Reihe von außergewöhnlichen CD-Produktionen veröffentlicht, neben zahlreichen Solo- auch viele Gemeinschaftsprojekte. Zuletzt erschien die CD „Bach – Small Gifts“, für die Sie mit der Ausnahme-Blockflötistin Dorothee Oberlinger im Studio waren. An welche Produktionen erinnern Sie sich besonders gern?

Na ja, am nächsten liegen mir natürlich Projekte, die in den letzten Jahren stattgefunden haben. Im Lauf der Jahre sind aber über 20 CDs entstanden und mit ein bisschen Abstand lässt sich dann beobachten, was einem besonders am Herzen liegt, obwohl es kommerziell vielleicht kein so großer Erfolg war. Es gibt zum Beispiel ein Repertoire abseits des Mainstreams, das ich wahnsinnig mag – frühe deutsche Barockmusik von Kantoren wie Dietrich Buxtehude, Heinrich Schütz, Philipp Heinrich Erlebach oder Franz Tunder. Auch einige Zusammenarbeiten waren sehr speziell. Wenn man zum Beispiel mit Barbara Bonney für „Pergolesi: Stabat Mater“ im Studio steht, ist das ein Highlight. Auch über die Einladung, mit Dorothee Oberlinger eine Bach-CD zu machen, habe ich mich sehr gefreut. Und dann gibt’s da noch Zusammenarbeiten, die zwar weniger „naheliegend“ sind, einen aber ein Leben lang begleiten – wie eine Aufnahme mit dem Australian Brandenburg Orchestra. Zum einen entstehen tolle Freundschaften, wenn man bei über 40 Grad in kurzen Hosen und T-Shirt gemeinsam Barockmusik probt. Zum anderen schweißt es einen natürlich noch mehr zusammen, wenn die Aufnahme dann in der Filmmusik von „James Bond: Spectre“ oder in der Netflix-Serie „Narcos: Mexico“ erklingt.

 

Neben Ihrem Leben auf der Bühne und im Studio unterrichten Sie seit 20 Jahren Gesang und gaben weltweit Masterclasses. Was gibt Ihnen die Universität, was Sie auf der Bühne nicht finden?

Man lernt selbst einfach wahnsinnig viel durch das Unterrichten. Als junger Lehrer muss man zunächst verbalisieren, was man selbst instinktiv macht. Als junge*r Sänger*in wiederum ist es natürlich gut, Instinktsänger*in zu sein. Doch wenn irgendwann ein Problem kommt, man nicht zu 100 Prozent fit ist und sich die Kräfte anders einteilen muss, ist das gelernte Wissen um die eigene Stimme unabdingbar. Zudem ist es mir ein Anliegen, Studierende zu inspirieren, ihren eigenen Weg zu finden. Sich auf der Bühne zu zeigen und eine eigene Idee umzusetzen, auch wenn sie ganz anders klingt als das, was alle anderen vor einem gemacht haben, kostet viel Mut – und den will ich den Studierenden mitgeben.

 

Wie wichtig waren musikalische Mutmacher denn für Ihre eigene Karriere?

Ich hatte das Glück eines wirklich tollen Studiums, und am Ende ist man ja immer das Produkt aller Menschen, mit denen man gearbeitet hat. Trotzdem gibt es ein paar, die mich besonders geprägt haben. Mit meinem Gesangslehrer Richard Levitt war ich bis zu seinem Tod vor zwei Jahren in Kontakt. Er konnte vieles so schön konkretisieren und hat mich immer ermutigt. Auch von René Jacobs, der als Countertenor ein sehr strenger, aber zugleich befeuernder Lehrer war, konnte ich viel lernen. Genauso von Evelyn Tubb und Anthony Rooley, die sehr spezialisiert toll arbeiten. Bei allen ging es immer darum, die eigene Persönlichkeit zu finden, und von ihnen habe ich mir sehr viel abgeschaut, auch ihren positiven Zugang zur Lehre. Es hilft keinem Studierenden, niedergemacht zu werden – ich bin kein Richter, sondern Lehrer.

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