Sarah Nemtsov: An den eigenen Traum glauben

01.10.2022
Interview
Sarah Nemtsov | © Camille Blake

Die vielfach ausgezeichnete Komponistin Sarah Nemtsov zählt zu den gefragtesten musikalischen Stimmen ihrer Generation. Ein Gespräch über ihre Professur an der Universität Mozarteum, ihren persönlichen Schaffensprozess und eines ihrer Highlights 2022.

Mozarteum: Ihr Œuvre umfasst rund 150 Werke in fast allen Genres, Sie arbeiten mit den weltweit renommiertesten Ensembles und Orchestern, erhielten zahlreiche Preise und Auszeichnungen und wurden 2020 für den Opus Klassik in der Kategorie „Komponistin des Jahres“ nominiert. Damit nicht genug, erblickte ihr jüngstes von drei Kindern Anfang des Jahres das Licht der Welt. Wie machen Sie das?

Sarah Nemstov: … vielleicht erblickte auch die Welt das Licht dieser kleinen Person, die ich hier gerade auf dem Arm halte. Die Kinder geben mir durchaus Kraft für die Arbeit und „erden“ mich gewissermaßen. Natürlich muss man strukturiert sein und jeder Tag hat gefühlt zu wenige Stunden, aber das geht sicherlich vielen Menschen so.

 

Anfang des Jahres wurde Ihr Werk „Tikkun“ unter der Leitung von Emilio Pomárico mit dem Ensemble Nikel und dem Ensemble Resonanz zum 5. Jubiläum der Hamburger Elbphilharmonie uraufgeführt. Tikkun olam' bedeutet „Heilung“ oder „Reparatur der Welt“. Worauf spielen Sie an?

„Tikkun“ ist der letzte Teil einer noch nicht fertiggestellten, abendfüllenden Tetralogie für Solistenensemble und Orchester zu mystischen Schöpfungsvorstellungen im Judentum, Teil drei fehlt noch. Jeder der vier Teile ist mit einem Begriff kabbalistischer Weltentstehungsmythen verknüpft: Reshimot – Abdrücke, Sh’vira – Zerbrechen, K’lipot – Schalen und Tikkun – Heilung. Einfach formuliert verhandeln die ersten drei Teile Aspekte der Urkatastrophe Sh’virat hakelim, dem Zerbrechen jener Gefäße, die für das göttliche Licht vorgesehen waren, dieses aber nicht halten konnten, da es zu stark war. Scherben und Funken sinken in die materielle Welt und mit ihnen kommt die Lebensenergie, aber auch das Böse. Erst die Dualität ermöglicht den freien Willen. Tikkun olam als Heilung der Welt ist ein wichtiges ethisches Prinzip im Judentum und eine wesentliche Aufgabe des Menschen. Die göttlichen Funken gilt es aufzuspüren und die Risse zu kitten – ein Prozess, bei dem jede und jeder einzelne aufgefordert ist mitzumachen. Ich finde diese Vorstellung sehr modern und aktuell. Akut auch für unsere Gesellschaft.

 

Spielen mystische Vorstellungen in Ihrem Werk generell eine Rolle?

Insgesamt ist das Mystische im Gegensatz zu anderen jüdischen Themen, die mein Werkverzeichnis durchziehen, relativ neu in meinem Schaffen. Es ist das Abstrakte und gewissermaßen Hermetische am Mystischen, das mich fasziniert und inspiriert. Gewisse Vorstellungen oder Ideen zum Klingen zu bringen, ist für mich fruchtbar, da diese Vorstellungen für mich ein Gegenüber bilden. Es führt mich zu Dingen, zu denen ich vielleicht sonst nicht gekommen wäre. Auch Literatur kann so ein Gegenüber sein.

 

Sie meinen Gedanken von Walter Benjamin oder Paul Celan, Emily Dickinson oder Virginia Woolf, mit denen Ihre Werke immer wieder in Verbindung gebracht werden?

Genau. Es gibt oft Bücher, die mich begleiten, Autorinnen oder Autoren, die eine Zeit lang wichtig sind für mich. Auch sie bilden ein Gegenüber, das ich teilweise bewusst suche. Die Texte können eine Komposition mitfärben oder mitformen. Für das Publikum muss das nicht unbedingt transparent oder verstehbar sein, es ist eher für meinen Schaffensprozess wichtig. Fast jeder Partitur stelle ich außerdem einen Satz einer Autorin oder eines Autors voran, der wie eine Art Klinke die Tür zu einem Stück öffnet. Klänge sind schwer in Worte zu fassen, Literatur kann weitere Assoziationsräume mitgeben.

 

Forever – is composed of Nows – ‘Tis not a different time – Except for Infiniteness – And Latitude of Home – […]. Diese Zeilen Emily Dickinsons verweben Sie in einen Text zum Porträtfestival Les Amplitudes, das seinen Fokus heuer fünf Tage lang auf Ihre Musik legte. Wie war das für Sie?

Les Amplitudes war eine ganz besondere Erfahrung. Es begann schon mit der Entdeckung des Orts La Chaux-de-Fonds 2021, in den ich mich sofort verliebte – die Straßen, die Häuser, die Atmosphäre, die Luft und die wunderschönen Landschaften. Die Einladung zum Festival war natürlich eine große Ehre. Fünf Tage voller Konzerte und Veranstaltungen, die sich größtenteils auf mein Schaffen konzentrierten – es gab Werke für Streichorchester, Ensemble und Kammermusik in verschiedenen Besetzungen bis hin zu Soli, es gab ein Projekt für junges Publikum, eine Installation, einen Film, ein liturgisches Werk, das in der alten Synagoge der Stadt aufgeführt wurde und ein Fest mit viel „Noise“ zum Abschluss. Das alles war ein Traum und ein großes Geschenk! Zugleich muss ich zugeben, dass es auch etwas Beängstigendes hatte. Noch nie habe ich so viel meiner Musik in so kurzer Zeit gehört – das ist so, als befände man sich in einem Spiegelkabinett. (lacht)

 

Ein Latitude of Home?

Ja, auch. Vor allem meine ich damit aber die Form des Festivals, das ein Zuhause für die Musik schafft. Einen Raum, in dem wir wohnen und uns treffen, entdecken und diskutieren, zuhören und feiern können. Und tatsächlich ergaben sich sehr viele schöne Begegnungen – nicht nur mit den Musikerinnen und Musikern und dem großartigen Organisationsteam des Festivals, sondern auch mit einem sehr diversen Publikum, das auch aus Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt bestand, die einfach neugierig waren. Es gibt einen Hunger nach speziellen Live-Momenten.

 

Einer Ihrer jüngsten Instrumentalzyklen trägt den Titel „Haus“. Die spektakuläre szenische Uraufführung fand mit einer Regie- und Videoarbeit von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke im Rahmen der Ruhrtriennale 2022 in einer Turbinenhalle statt. Wie eng ist Neue Musik mit anderen Künsten verwoben?

Wie alles andere auch ist die Neue Musik ist im 21. Jahrhundert sehr multimedial geworden. Neue Musik ist längst nicht mehr nur ein akustisches Erlebnis auf einer Konzertbühne. Sie erkundet oft andere Orte, sucht andere Formate, arbeitet multi- oder transmedial und damit per se mit anderen Künsten … mit Video, Elektronik, Installation, Licht, Text und allem, was sonst noch dazugehört. Für Künstlerinnen und Künstler stellt sich dabei zunächst einmal die Frage, ob man rein technisch dazu in der Lage ist, das alles selber zu machen, ohne dilettantisch zu sein. Oder ob man mit anderen zusammenarbeitet, vielleicht sogar ein Kollektiv bildet. Es gibt viele kollektive Formate mittlerweile, was ich sehr schön finde. Und gemeinsam etwas entstehen zu lassen, ist gewissermaßen ja auch ein politisches Statement, das von der Idee des Einzelkünstlers oder des Genies weggeht. Natürlich ist das letztlich aber auch eine Typfrage. Ich schätze die Zusammenarbeit mit anderen sehr, weil sie mich inspiriert und so Werke entstehen, die ich allein nie hätte schaffen können, trotzdem muss ich beim Schreiben von Musik für mich sein …

 

Heute treten Sie Ihre Professur für Komposition an der Universität Mozarteum an. War das Interdisziplinäre der Universität, die alle Kunstsparten unter einem Dach vereint, für Sie reizvoll?

Das Mozarteum ist eine unglaublich tolle Institution, von der ich als Kind zum ersten Mal gehört habe. Als ich mit zwölf einmal für einen Tag in Salzburg war, schwebte mir das Mozarteum bereits im Kopf herum – damals schon hatte ich den Traum, Musikerin zu werden. Jedenfalls ist es etwas sehr Schönes, jetzt hier zu sein und ich bin glücklich, diese Stelle und das damit verbundene Vertrauen zugesprochen bekommen zu haben. Ich habe auch das Gefühl, dass jetzt die richtige Zeit dafür ist. Einfach weil ich an einem Punkt angekommen bin, an dem ich auch etwas zurückgeben kann. Das Interdisziplinäre der Universität ist großartig, weil es viele Möglichkeiten für Studierende eröffnet, über das eigene Fach hinauszublicken und vielleicht auch hinauszuwachsen.

Meinen zukünftigen Studierenden möchte ich jedenfalls mitgeben, an den eigenen Traum zu glauben und ihm auch zu folgen, der eigenen Kraft zu vertrauen und auch der Arbeitsfähigkeit, nicht nur dem Talent … und mutig zu sein! Vision, Vertrauen, Fleiß, Mut – immer wieder in einer anderen Reihenfolge vielleicht.

 

Sarah Nemtsovs neue Oper „Ophelia“ (2020-2021) wird mit einem Libretto von Mirko Bonné 2023 am Saarländischen Staatstheater uraufgeführt. Derzeit arbeitet sie u.a. an der Oper „WIR“ nach dem Roman von Jewgeni Samjatin. Die Uraufführung ist für 2024 an der Oper Dortmund geplant.

 

 

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