Mit Musik den Horizont erweitern

11.10.2024
Interview
© Asya Chzhan

Die Kunst und die Liebe zur Viola führten German Tcakulov von Wladikawkas nach St. Petersburg, weiter nach Berlin, München, Karlsruhe und nun nach Salzburg, wo er am 1. Oktober 2024 eine Professur für Viola antrat.

Wie fanden Sie zu Ihrer musikalischen Leidenschaft, der Viola? 

German Tcakulov: Ich wuchs in einem sehr musikalischen Haus auf, klassische Musik war allgegenwärtig. Meine Mutter ist Musikliebhaberin und spielte selbst Klavier. Sie hat kein künstlerisches Fach studiert, da ihr die technischen Prüfungen und die Gehörbildung nicht gefielen – sie wurde Ärztin.

Jedenfalls gingen wir in meiner Heimatstadt Wladikawkas, eine kleine, bergische, kulturell geprägte Stadt, sie hat Ähnlichkeit mit Salzburg, sehr oft in die Philharmonie. Mit sechs oder sieben Jahren hörte ich dort ein Sinfonieorchester, ich glaube, es war Beethovens 5. Sinfonie, und ich spürte die Vibrationen auf dem Stuhl während des Konzerts. Das war so unglaublich für mich, die Kraft des Klangs fesselte mich. Vorne saßen die Streicher, deren Gestik und Bewegung mich zudem sehr faszinierten. Aus dieser Erfahrung heraus wollte ich unbedingt ein Streichinstrument spielen. Ich begann mit der Geige, aber meine erste Lehrerin begutachtete meine Hände und stellte fest, dass ich Bratsche spielen müsse. So war es: Ich habe Geige, Bratsche und Klavier probiert. Das Klavier ist meine Idealvorstellung in meinen musikalischen Gedanken. Wenn ich ein neues Stück einstudiere, spiele ich es am Klavier, singe, spreche und dirigiere es. Ich möchte zuerst diesen neutralen, reinen musikalischen Klang hören, ohne Bogen, ohne Vibrato – pure Musik. Erst dann entsteht die Interpretation.

Wie würden Sie die Bratsche beschreiben, wenn Sie sie wie einen Freund vorstellen müssten?

Die Bratsche hat für mich etwas sehr Melancholisches, etwas Menschliches. Sie spricht aus der Seele, wobei das Tempo, auch die Schwingung der Bratsche, ganz eigen ist. Generell würde ich die Bratsche als Instrument beschreiben, das Atmosphäre schafft und das zahlreiche Rollen übernehmen kann, auch eine solistische. Diese Vielseitigkeit fasziniert mich. Als Mensch wäre die Bratsche also durchaus kompliziert, nicht nur harmoniesuchend, obwohl sie sich oft „in der Mitte“ bewegt. Sie kann auch kräftig und laut Einspruch erheben, dunkel oder eben melancholisch sein. Die Nähe der Bratsche zum Cello ist übrigens für mich größer als jene zur Geige.

Welche gesellschaftlichen Aufgaben hat (klassische) Musik aus Ihrer Sicht? 

Wir sehen überall in der Welt Krisen, nicht nur in der Klassik, sondern auch im Journalismus, in der Politik – es sind schwierige Zeiten. Veränderungen schrecken uns meist ab, Weltuntergangsstimmung kommt da und dort auf. Trotzdem leben die meisten Menschen weltweit viel besser als noch vor 30 Jahren. Ich persönlich versuche also, optimistisch zu sein. Was mich dennoch ein wenig unruhig stimmt, ist, dass die Rolle der Kunst seitens der Politik nicht mehr wirklich wahrgenommen wird. Unser Konzertpublikum ist überaltert und meist konservativ. Konzertreihen finden in goldenen Sälen statt, es kommen Menschen, die sich teure Karten leisten können. Ich befürchte, dass viele klassische Musiker:innen erwarten, dass das Publikum einfach weiterhin kommen wird. Meine Überzeugung aber ist, dass wir Musiker:innen zum Publikum gehen müssen. Als Student initiierte ich in Berlin eine Konzertreihe gemeinsam mit Medizinstudierenden. Die Aufführungsorte waren keine Konzerthäuser, sondern Fabriken, Kellerlokale und Brauereien. Für viele Menschen, übrigens nicht nur junge, sind traditionelle Konzerthäuser eine Hemmschwelle. Die Atmosphäre schreckt sie ab. Man kann Konzerte in vielen verschiedenen Locations günstig spielen. Solche Konzerte waren für mich als Ausübender ganz besonders. Die Besucher:innen waren meist junge Menschen, die noch nie klassische Konzerte besucht haben. Ich weiß von einigen, die heute Klassik-Fans geworden sind. Wir konnten sie gut abholen. Ich glaube, dass wir als Musiker:innen offener sein und uns überlegen müssen, wie wir Menschen mit Musik erreichen können – und nicht umgekehrt.

Ich fürchte auch, dass wir einige Generationen verloren haben. An den Gymnasien gab es früher viel mehr Unterrichtsstunden pro Woche für Kunst und Musik. Heute wird in den „Kreativfächern“ viel gestrichen. Wenn man jedoch einmal erlebt hat, wie Kunst unser Leben schöner und kreativer machen kann, möchte man es nicht mehr missen. Der Blick und die Wahrnehmung verändern sich. Man beurteilt Dinge anders mit diesem Hintergrund. Vielleicht erkennt man auch auf politischer Ebene eines Tages diese Notwendigkeit. 

Gibt es kulturelle Besonderheiten für Musiker:innen oder in der musikalischen Ausbildung in Russland und Deutschland?

Es gibt schon große Unterschiede, allein schon in der Sprache. Russisch ist sehr melodisch, man bildet Sätze frei. In der deutschen Sprache wird strukturierter artikuliert. Das hört man auch in der Musik, in der Artikulation und in den Phrasierungen, in der Klarheit des Tones und in raffinierten Kleinigkeiten. Das wird in Russland sehr geschätzt. In Russland wiederum ist die Emotion wichtiger, der große Eindruck. Das spiegelt sich auch in der Mentalität wider. Die Kernaufgabe bleibt aber überall dieselbe: Kunst muss etwas bewegen, sie muss etwas sagen, Eindruck hinterlassen. Ich bin sehr dankbar, dass ich beides erleben durfte. St. Petersburg hat Kultur in jedem Zentimeter. Die Menschen wachsen mit dieser Kultur auf. In meiner Schulzeit gingen wir zwei Mal wöchentlich ins Museum. Wenn Kinder die Wertschätzung für diese Bildung erfahren, erlebt die Kunst einen anderen Stellenwert. Das überträgt sich auch auf die Lebensqualität.

Was ist das Schöne am Unterrichten? Worauf dürfen sich Ihre Studierenden freuen?

Ich begann bereits sehr früh mit dem Unterrichten. Das Schöne dabei ist, dass man auch selbst sehr viel lernt. Vor allem die Kombination aus Unterrichten und Spielen ist wichtig. Nur zu unterrichten, kann gefährlich sein, da man verlernt, auf die Bühne zu gehen. Die Realität des Konzertsaals, die Rückmeldung und Reflexion gehen verloren, aber: Genau das ist neben Technik und Theorie für das Spiel von großer Bedeutung. Auch die Vielseitigkeit in der Musik ist mir sehr, sehr wichtig. Kammermusik oder Solo, Barock, Klassik, zeitgenössische Musik, Techno, Jazz-Improvisation, Elektronische Musik, andere Künste: Dies alles in Verbindung mit der Bratsche ist für mich großartig.

Meine Aufgabe als Professor sehe ich darin, den Horizont der Studierenden zu erweitern. Sie sollen sich nicht nur als Handwerker:innen sehen. Es kann nicht das einzige Ziel sein, auf eine feste Stelle in einem Orchester hinzuarbeiten. Das Orchester bietet natürlich eine Sicherheit, aber es gibt so viel mehr! Wir Musiker:innen müssen zu unseren Wurzeln zurückkehren. Zu Bachs Zeiten haben Musiker:innen mehrere Instrumente gespielt – sie waren Musiker:innen, keine Instrumentalist:innen. Sie drückten sich über Musik aus. Wir dürfen uns als klassische Musiker:innen nicht selbst in eine Schublade stecken.

Wie fordert man Studierende heraus, das Beste aus sich rauszuholen? Neues auszuprobieren oder Dinge zu verändern? Wie lernt man Dinge durch Musik auszudrücken?

Ich hatte noch nie Studierende, die nicht motiviert waren. Mir ist bewusst, dass ich privilegiert bin. Sowohl in der Klasse von Tabea Zimmerman, in der ich Assistent war, als auch in meiner Klasse an der Universität München war das Niveau hoch. Ich rege die Studierenden an, Konzerte von anderen Künstler:innen, z.B. Sänger:innen, Pianist:innen usw. anzuhören und führe dann gerne Gespräche darüber. Ich will vermitteln, dass wir uns erlauben können, Künstler:innen zu sein. Natürlich ist das Handwerk wichtig. Niemand will unsauberes Spielen hören. Das ist die Basis. Es dürfen aber auch Fehler passieren, das ist menschlich. Wichtig ist der Mut, als Künstler:in über Bekanntes hinauszugehen ...

In Europa wird die Tradition noch weitergetragen, und das ist sehr schön. Ich hoffe, dass das erhalten bleibt. Wir müssen als Künstler*innen natürlich unser Brot verdienen. Dieser Broterwerb wird mit der Zeit schwerer und schwerer. Es gibt wenige sichere Jobs und Musiker*innen werden in Relation zu anderen Berufsgruppen sehr schlecht bezahlt. Wenn man eine Topstelle bekommen will, muss man zweifelsohne technisch tadellos spielen. Man muss die Balance zwischen künstlerischem Ausdruck und technische Fähigkeiten finden. 

Welche Leidenschaften neben der Viola pflegen Sie noch?

Ich entdecke immer wieder Neues. In der Kunst gibt es viel, das mich interessiert. Grundsätzlich liebe ich die Interaktion mit Menschen. Ob gemeinsames Kochen, Essen, Tanzen oder einfach nur Spazieren: Auch das sind die Momente, die ich genieße.

Was wollen Sie vermitteln, was ist Ihnen wichtig?

Ich bin sehr glücklich und dankbar, dass ich diese Stelle bekommen habe. Für mich ist das eine wundervolle Aufgabe. Ich freue mich auf die vielen Dinge, die ich noch in Salzburg lernen darf.

 

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In Wladikawkas/Russland geboren, begann German Tcakulov seine musikalische Ausbildung in seiner Heimatstadt mit Violine, Viola und Klavier. Mit 15 Jahren setzte er sein Viola-Studium an der Musik-Spezialschule des Konservatoriums in St. Petersburg bei Prof. Wladimir Stopitschew fort, um nach vier Jahren an das Petersburger Konservatorium zu wechseln. Im Alter von 21 Jahren wechselte er nach Deutschland, wo er an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin bei Tabea Zimmermann seinen Bachelor und Master im Fach Viola abschloss.

2013 war er Stipendiat der Lucia-Loeser-Stiftung und gewann zahlreiche Preise bei internationalen Wettbewerben, u.a. Charles Hennen in Holland, Jyväskylä in Finnland, Mravinsky in Russland sowie den Musikpreis „start-up! music“ des Fördervereins der HfM Hanns Eisler. Von 2018 bis 2022 war er Mitglied des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BR). Als Orchestermusiker arbeitete er mit Dirigenten wie Mariss Jansons, Simon Rattle, Daniel Barenboim, Bernard Haitink, Herbert Blomstedt, Ivan Fischer, Daniel Harding, John Eliot Gardiner, Daniele Gatti oder Valery Gergiev.

Zu seinen Kammermusik-Partner*innen zählen Stephan Forck, Ulf Wallin, Tabea Zimmermann, Claudio Bohórquez, Stephan Pickard, Boris Garlitsky, Wen-Sinn Young, Ingolf Turban, Thomas Hoppe und Frank van de Laar. Einladungen zu Festivals führten ihn u.a. zum AIMS Festival in Spanien, Murten Classics, den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern und den Otzberger Sommerkonzerten. Von 2017 bis 2022 wirkte er als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin und war Assistent von Tabea Zimmermann. Von 2021 bis 2023 betreute er eine eigene Viola-Klasse an der Hochschule für Musik und Theater München. Im Sommer 2022 wurde er als Professor für Viola an die Hochschule für Musik in Karlsruhe berufen. Darüber hinaus vermittelt er sein Wissen und seine Expertise an der Scuola di Musica di Fiesole/Florenz und gibt weltweit Meisterkurse. Mit Herbst 2024 tritt er seine Professur an der Universität Mozarteum an.

Er spielt zwei moderne französische Bratschen von Patrick Robin und Roland Belleguic.

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    Opernproduktion