Aushandlungsraum, Parlament und Spielplatz für morgen

10.06.2024
Interview
Mann oh Mann, Boy oh Boy | © Johanna Mayrhofer

Das Masterstudium Applied Theatre der Universität Mozarteum feiert 5. Geburtstag. Ein Rück- und Ausblick mit Univ.-Prof.in Ulrike Hatzer, die das Studium seit 2019 leitet.

 

Bild: aus der Produktion „Mann oh Mann, Boy oh Boy“ von Jonas Baur  (2022)

Bürgerbühne, partizipatives Theater, Theater der Intervention, theatre & community, Theaterpädagogik oder eben: „Applied Theatre“. Es gibt viele Namen für jene jüngere Entwicklung der internationalen Theaterlandschaft, in der die Verhältnisse von Akteur:innen und Zuschauer:innen ebenso wie Proben und Produktionsprozesse neu formuliert werden. „Applied Theatre“ bedeutet, Theaterkunst in gesellschaftliche Handlungsfelder zu übertragen. In diesem Sinn beinhaltet das zweijährige Master-Studium „Applied Theatre – künstlerische Theaterpraxis & Gesellschaft“ an der Universität Mozarteum die Auseinandersetzung mit und Erfindung von partizipativen, immersiven, interventionistischen, kollektiven und ortsspezifischen Formaten. Applied Theatre verknüpft Praxis und Theorie mit unterschiedlichen Recherche-, Anleitungs- und Inszenierungsprozessen jenseits gängiger Konventionen. Es geht darum, Theater in verschiedene gesellschaftliche Felder und Situationen zu tragen und sich fragend in die Welt einzumischen.

Was verstehen Sie unter Applied Theatre und worin liegen die relevanten Fragen?

Die grundlegendste Frage ist: Was ist Theater? Theater als Praxis könnte man übersetzen als künstlerische Manifestation von Interesse an der Welt, an Kommunikation und Aushandlung. Aber wer spielt und wer soll zusehen? Kann man das unterlaufen, oder muss man diese beiden Vorgänge tatsächlich so getrennt denken? So wie wir Theater verstehen, ist es eine kreative Art von Parlament, von Versammlung. Das betrifft auch die bereits politische Frage der Repräsentation: Wer darf wen mit welcher Begründung repräsentieren? Ist das eine Frage des Berufs, eine Frage des Mandats? Was ist Selbstrepräsentation und wer ist Expert:in einer Profession? In welcher Rolle mache ich was, mit wem, wo und unter welchen Vorannahmen? Was ich versuche zu sagen ist, dass wir uns als Applied Theatre, ungeachtet dessen, wie der Begriff sonst in der Welt definiert werden will, und das ist überall anders, als künstlerisch-forschenden Raum verstehen, der hinterfragt und der Probehandeln ermöglicht und forciert. Das Wirklichkeitspotential von Utopien erproben, von der Fiktion zur Realität und das am besten nicht in hierarchischen Strukturen, in denen eine:r sagt, was probiert wird und wer mitmachen darf, sondern in Aushandlungsprozessen.  

Es gibt verschiedene Output-Formen bei Applied Theatre, richtig?

Ja, natürlich. Bei der Masterarbeit „Mann oh Mann, Boy oh Boy“ ging es z.B. um Menschen, die sich männlich lesen und darum, einem toxischen Rollenverständnis zu entgehen. Das war beispielsweise ein langer Prozess, bis sich die Gruppe der Akteur:innen gefunden hat. Irgendwann kam dann aber die Phase, in der man tatsächlich auf ein klassisches Bühnenergebnis in repräsentativer Form hingearbeitet hat. „After crisis“, ein Masterprojekt, das gerade erarbeitet wird, hat eher was Versammlungshaftes und Installatives. Das Einrichten der Bühne ist schon Teil der Performance, und es können laufend Menschen dazukommen, es gibt also kein klassisches „und jetzt geht’s los“. Sämtliche Handgriffe, vom Aufbau bis zum Abbau, sind Teil des Projekts. In einem anderen zukünftigen Masterprojekt interessiert sich eine Studierende dafür, wie man Communities baut, wie Menschen zu einer temporären Gemeinschaft werden. Dafür arbeitet sie inmitten der Stadt und mit Objekten und Materialien. Bei dieser Form gibt es kein Publikum im herkömmlichen Sinn. Alle, die anwesend sind im öffentlichen Raum, sind Teil der Handlung. Es gibt bei uns ein sehr breites Formenspektrum. Zentral ist dabei die Recherche, die oft auch die Projekt- bzw. Inszenierungsästhetik wesentlich beeinflusst.

Was sind beispielhafte Themen der letzten Zeit?

Kollektivität, Kooperation, Ko-Kreation, Teamarbeit. Darum geht es bei uns implizit immer, ganz explizit aber in den Sommersemestern: Wie kann man miteinander arbeiten? Auf einer zweiten Ebene fragen wir nach dem Dokumentarischen im Theater. Wer oder was ist ein Dokument? Wer schafft es in Archive, denn theatrale Räume sind am Ende des Tages genau das: Archive einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes. Viele Menschen, Themen und Dinge schaffen es erst gar nicht in ein Archiv. Dabei geht es immer auch darum, wie Menschen und ihre Geschichten Teil einer Stadt werden und wie wir eine konkrete Zukunft imaginieren können. Darum geht es im Juni auch im neuen dokumentarischen Projekt, das wir wieder in Kooperation mit der Sommerszene erarbeiten. In einem Stadtspaziergang wird gemeinsam eine mögliche konstruktive und feministische Zukunft von Salzburg entwickelt. Wir lassen utopische Räume entstehen. Letztes Jahr hieß das Projekt „Playground for Tomorrow“ und beschäftigte sich mit der Frage, ob wir mit den Praktiken von heute ernsthaft ein besseres Morgen gestalten können. Zentral war hier die Immersion in die Wirklichkeit und die Veränderung derselben durch kleine Gestiken und Installationen.

Wie würden Sie die letzten fünf Jahr beschreiben? Und wie soll es weitergehen?

Wir haben Applied Theatre für die Universität Mozarteum ganz neu gedacht und haben bereits eine gute Ausstrahlung und auch „Nachahmer“, wie z.B. die FH Coburg in Deutschland, die jetzt auch mit einem „Applied“-Programm an den Start geht. Unser Start fiel leider in die Corona-Zeit, daher hatten wir nicht wirklich fünf Jahre Entwicklung. Es gibt immer noch Situationen, die keine Routine haben, aber wir haben einen Rucksack voller Ausnahmen und Herausforderungen. Gleichzeitig freuen wir uns darauf, etwas stetiger zu werden und etwas mehr zur Ruhe zu kommen. Inhaltlich brauchen wir natürlich das ständige Experiment, strukturell würde ich unseren Studierenden nun aber schon wünschen, zukünftig nicht mehr ganz so viel Pionierarbeit leisten zu müssen, sondern sich ganz auf das Studium einlassen zu können. Es ist erstaunlich, welch spannende Menschen den Weg zu uns finden und das Studium letztlich mit ihren sehr heterogenen Hintergründen mitgestalten. Als internationales Studium wird es sehr gut angenommen. Gleichzeitig sind wir lokal mittlerweile profund vernetzt. Auch in den Fachdiskursen sind wir schon gut verankert und werden zu Konferenzen eingeladen, um unseren besonderen Ansatz vorzustellen, der durchaus als Weiterentwicklung verstanden wird.

Gab es überraschende oder lustige Erlebnisse?

Die gibt es immer wieder, v.a. berührende Momente. Beim „TheaterLabor X“ nehmen immer wieder Personen teil, die schon länger dabei sind als die einzelnen Studierenden. Ich nenne sie unsere eigentlichen Langzeitstudierenden und unsere Stadtkompliz:innen. Dieser Kreis wird immer größer. Ich höre besonders gerne zu, wenn diese Personen neuen Teilnehmer:innen Applied Theatre erklären. Wir kommen dadurch ins gegenseitige Lernen, das macht sehr viel Spaß! Unlängst hatten wir innerhalb einer Lehrveranstaltung eine Workshopserie mit und für verschiedene Communities und es entstanden ganz bezaubernde Atmosphären. Eine Gruppe hat eine Stadt gebaut, in der sie sich sicher fühlen würden. Als der Workshop vorbei war, wollten sie ihre gebaute, inszenierte Stadt, ihren „safe space“ nicht verlassen. Ich sah uns schon eine Nachtschicht einlegen, denn man kann Menschen aus ihrer eigenen Stadt ja nicht gut rausschmeißen – da war die Fiktion zur Realität geworden.

 

(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 8. Juni 2024)

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