Die Rezeption Beethovens und seiner Musik in den von den Nazis besetzten europäischen Ländern
Obwohl das kulturelle Leben in den verschiedenen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern zwischen 1939–1945 deutliche Unterschiede aufwies, die teilweise auf spezifische nationale Traditionen und deren historische und ideologische Beziehung zur deutschen Musik und zur politischen Situation zurückzuführen sind, scheint ein Faktor, der alle musikalischen Aktivitäten in diesen Gebieten verbindet, die beständige Präsenz der Musik Ludwig van Beethovens zu sein.
Indoktrination, Widerstand, Versöhnung
Ein Projekt am Institut für Musikwissenschaft der Universität Münster (Prof. Dr. Michael Custodis, & Anna Maria Plischka, M.A., M.A., assistance) in Kooperation mit dem Beethoven-Haus Bonn und den Deutschen Historischen Instituten in Paris, Rom und Warschau
Teilprojekt Dänemark
Yvonne Wasserloos
(Department Musikwissenschaft)
Laufzeit
2022-2027
So kontrovers das Musikleben in Diktaturen und besetzten Gebieten ist, so unterschiedlich sind die Beweggründe, Beethovens Musik in den Vordergrund zu stellen. So wurde Beethoven nicht nur in offiziellen Propaganda- und Militärveranstaltungen sowie in unzähligen öffentlichen Konzerten geehrt, sondern auch im klandestinen und widerständigen Musizieren und unter erzwungenen Umständen in Konzentrationslagern verehrt. Dass Beethoven in der Lage war, die Bedürfnisse der diametral entgegengesetzten ideologischen Agenden des deutschen Imperialismus und der Widerstandsbewegung zu bedienen, ist an sich schon ein bemerkenswertes und einzigartiges Phänomen. Aus diesem Grund hat sich ein internationales Forscherteam mit den Experten des Bonner Beethoven-Hauses zusammengetan, um die Beethoven-Rezeption in dieser problematischen Zeit für einen Sammelband im Beethoven-Jahr 2027 so detailliert wie möglich zu untersuchen. Beteiligt sind insgesamt 40 Forscher*innen aus 22 europäischen Ländern, die sich zum wissenschaftlichen Austausch an den Deutschen Historischen Instituten in Warschau (2023), Paris (2024), Rom (2025) und an der Universität Münster (2026) treffen.
Ziele des Projekts:
- Rekonstruktion der Präsenz und des Zwecks von Beethovens Musik unter anderem in Belgien, Dänemark, Estland, Frankreich, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Tschechoslowakei.
- Untersuchung der Bedeutung verfolgter Musiker als kulturelle Botschafter eines alternativen, antinazistischen Deutschlands, zum Beispiel im schwedischen und schweizerischen Exil.
- Die Gründe zu verstehen, warum bestimmte Stücke von besonderer Bedeutung waren, und inwieweit diese Vorliebe für ein bestimmtes Repertoire mit alteingesessenen Traditionen zusammenhängt, die für ein bestimmtes Land spezifisch gewesen sein können oder auch nicht.
- Zu erfahren, ob diese Konzentration auf die Beethoven-Rezeption zu einem differenzierteren Verständnis des Musiklebens in den besetzten Gebieten und ihrer Beziehung zur deutschen Kultur führen kann.
- Ob die Politisierung Beethovens in dieser Zeit die Rezeption der Musik des Komponisten im Europa der Nachkriegszeit beeinflusst hat, wo Beethovens Musik wiederum eine wichtige Rolle für die Kulturdiplomatie und die internationale Zusammenarbeit spielte.
Teilprojekt Dänemark:
- Prof. Dr. Michael Fjeldsøe (Universität Kopenhagen): Beethoven-Reception in Denmark during the German Occupation
- Univ.Prof.in Dr.in Yvonne Wasserloos (Universität Mozarteum Salzburg)
Die Politik der Besetzung im Konzertsaal. Musiker und musikalisches Repertoire in der Nordischen Gesellschaft und ihre Beziehungen zu Beethoven
Abstract Yvonne Wasserloos:
Die Nordische Gesellschaft wurde 1921 in Lübeck als unpolitischer Kulturverein gegründet. Sie bemühte sich um die Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen im Ostseeraum. Mit kulturellen Veranstaltungen wie Konzerten, Lesungen, Ausstellungen usw. warb die Nordische Gesellschaft weiterhin für den "Nordischen Gedanken" unter dem Motto "Nordisches Land.Nordischer Gedanke. Nordische Gesellschaft" ("Nordisches Land. Nordischer Gedanke. Nordische Gesellschaft"). Die Nordische Gesellschaft nahm eine Brückenfunktion ein. Einerseits propagierte sie mit rassistischen Argumenten in Kulturveranstaltungen die Verbindung zu den Skandinaviern als "arische Blutsbrüder" im Deutschen Reich. Andererseits betrieb sie über ihre Kultur und Musik im Norden Propaganda für die deutsche "Volksgemeinschaft". In meiner Arbeit untersuche ich die Rolle Beethovens als Teil der "Nordischen Idee" im Rahmen der Aktivitäten des Vereins in Dänemark, insbesondere im "kontor" in Kopenhagen. Dazu gehören die Konzerte und die Schriften mit einem Schwerpunkt auf der Monatsschrift Der Norden. Monatszeitschrift der Nordischen Gesellschaft. Ebenso muss das Repertoire, das die Nordische Gesellschaft in Deutschland anbot und Beethoven als Repräsentant der "nordischen Idee" und Heldenfigur einsetzte, umgekehrt betrachtet werden. Wie Vanessa Williams für den Ersten Weltkrieg feststellte, ist es bezeichnend, dass Beethoven und seine Musik "patriotisches Heldentum für zwei vermeintlich gegensätzliche politische Bestrebungen repräsentieren können." 1 Ein Vergleich der Aktivitäten der Nordischen Gesellschaft vor und nach der Besetzung Dänemarks ist im Hinblick auf die Beethoven-Rezeption besonders aufschlussreich.
Zu den Künstlern, die die Nordische Gesellschaft betreuten, gehörte der dänische Tenor Helge Rosvænge, der bereits 1933 als "Ausländer" in die NSDAP eingetreten war. Als Vertreter des "Nordischen" war eine seiner Paraderollen der Florestan in Fidelio, mit dem er mehrmals bei den Salzburger Festspielen auftrat. Bei besonderen Anlässen trat er auch als Solist in der Aufführung von Beethovens IX. Sinfonie auf, z.B. im Abschlusskonzert der Reichsmusiktage Düsseldorf 1939. Rosvænge ist als politischer Musiker und Kollaborateur zu befragen, der sich mit seinem Beethoven-Repertoire in den Dienst der Nordischen Gesellschaft und des NS-Regimes stellte.
1 Vanessa Williams, “Welded in a single mass”: Memory and Community in London’s Concert Halls during the First World War’, in: Journal of Musicological Research 33 (2014), S. 27–38.