Auf Spurensuche mit Christian Josts „Dichterliebe“

13.01.2025
Interview

Florentine Klepper und Kai Röhrig im Gespräch über die nächste große Produktion am Department Oper & Musiktheater: Christian Josts Dichterliebe.

Christian Jost sagt über sein Werk, er „gewinne aus dem harmonischen Material Schumanns Neues, denke es weiter (…) und betrete die Räume, deren Türen Schumann aufgestoßen hat“. Florentine, wie bist du mit der Möglichkeit umgegangen, diese neu entstandenen Räume zu füllen?

Florentine: Theater ist für mich Kollektivkunst, daher beginnt bei mir jede Produktion im Team, auch hier an der Universität. Im Gespräch mit den beiden Ausstatterinnen Carla Schwering und Yvonne Schäfer, mit dem Dramaturgen Heiko Voss und natürlich mit Kai, von dem der Vorschlag für dieses Werk stammt, haben wir uns Assoziationsräume erschlossen, die einen Bogen spannen von der Romantik bis ins Heute. Die unerfüllte Liebe, die Sehnsucht nach der Natur, nach dem Tod, der Traum, das Reisen (in und zu sich selbst), das „Nicht-Ankommen“ sind alles Themen, die uns heute nach wie vor und vielleicht sogar mehr denn je bewegen und berühren.

Dabei war für uns vor allem die Frage wichtig, wie konkret wir sein wollen auf der Bühne, was für eine Geschichte erzählt die Dichterliebe? Wenn man das Zitat von Christian Jost in deiner Frage übersetzt, heißt das ja nicht, dass Schumann die Fragen gestellt hat und Jost nun mit seiner Komposition die Antworten darauf gibt. Ich würde eher sagen, Jost intensiviert den Schwebezustand, in dem sich unser „lyrisches Ich“ befindet. Es changiert zwischen Traum und Alptraum, in dem sich immer wieder Gedanken herauskristallisieren und in den Liedern dann zum Ausdruck kommen. Wir haben uns schließlich für einen Ort im öffentlichen Raum entschieden, an dem sich fremde Menschen zufällig begegnen und für kurze Zeit (oder auch länger) eine kleine Gemeinschaft bilden.

Für unsere Opernklasse war der Prozess diesmal ungewöhnlich, denn zu Beginn der Proben gab es nur eine musikalische Einteilung der Lieder, aber keine Rollenverteilung, keine bereits bestehenden Charaktere und keine Handlung. Jede*r hatte „nur“ musikalisches Material, aus dem sich erst eine Figur herausbilden musste. Das ist zum einen eine große Freiheit, selbst gestalten zu dürfen, fordert aber viel mehr Eigenverantwortung für sich und dem restlichen Ensemble gegenüber ein. Als wir ungefähr wussten, welche Charaktere wir erzählen wollen, haben wir begonnen zu improvisieren. Daraus ist eine Geschichte entstanden, in der jedes Ensemblemitglied seinen ganz spezifischen Platz eingenommen hat. Die Arbeit war dadurch sehr intensiv, weil sich alle Mitwirkenden persönlich einbringen konnten und mussten.

Die Liebe mit ihren vielfältigen psychischen Ausnahmesituationen ist das große übergeordnete Thema in Schumanns Liederzyklus – wie bringst du dein Konzept in einem Werk, das keine kausale Geschichte erzählt und ein so großes Feld an Emotionen „beackert“, auf den Punkt?

Florentine: Indem wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern nur Ausschnitte aus dem Leben der beteiligten Figuren erzählen, Momentaufnahmen, teilweise flüchtige Begegnungen, die manchmal im nächsten Augenblick schon wieder vergessen scheinen – oder wir uns nicht sicher sind, ob sie überhaupt stattgefunden haben. Daher haben die Menschen in unserer Geschichte auch keine Namen, sie stehen exemplarisch für viele andere Schicksale oder Lebensmodelle. Sie kommen und gehen, warten aufeinander, oder sind gerade verlassen worden, verlieben oder entlieben sich wieder und ziehen weiter. Was bleibt, ist etwas Skizzenhaftes, was hätte sein können.

Wie geht es euch damit, Musik, die einer sehr spezifischen Hörgewohnheit folgt (hier das Kunstlied von Robert Schumann), in einem ganz anderen Kontext auf die Bühne zu bringen? Welche musikalischen Herausforderungen gibt es für die Sänger*innen, die alle Operngesang studieren, im Umgang und der Vermischung dieser unterschiedlichen Kunstformen?

Kai: Genau darin liegt der Reiz dieser Produktion, eben „out of the box“ zu denken und zu arbeiten. Der Liedgesang erfordert eine besondere Sensibilität und Qualität im Umgang mit der Stimme. Besonders ungewöhnlich ist es dann, den Liedgesang im Rahmen einer szenischen Produktion auf die Bühne zu bringen und die sechzehn Lieder auf ein Ensemble zu verteilen. 

Florentine: Aus szenischer Perspektive besteht in der Kürze der Lieder eine große Herausforderung, sich darstellerisch auszudrücken. Kaum hat ein Lied begonnen, ist es auch schon wieder vorbei, d.h. unser Ensemble hat ungewöhnlich wenig Text zur Verfügung, um sich mitzuteilen. Dadurch werden die Zwischenspiele umso wichtiger, das Ensemble ist fast durchgehend auf der Bühne und muss ein sicheres Gefühl für Fokus und non-verbale Kommunikation entwickeln, um gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. 

Kai: Bei der Dichterliebe von Christian Jost geht es um eine spezifische Herangehensweise an den Liedgesang. Den Ausgangspunkt seiner Partitur bilden die Texte von Heinrich Heine und die Melodien von Robert Schumann, allerdings erweitert er die musikalische Form und das instrumentale Klangspektrum erheblich. Schumanns Lieder schwimmen – größtenteils in ihrer originalen Gestalt – vorbei als Teil eines oszillierenden Mahlstroms aus Klang- und Motivmaterial. Du hast oberhalb von „Räumen“ gesprochen. Jost erweitert Schumanns originale Gestalt der Komposition um eine gänzlich eigenständige Ebene an Farben und Stimmungen und erschließt damit gänzlich neue Klangräume. Seine Partitur ist keinesfalls nur eine Orchestrierung des romantischen Liederzyklus, sondern eine absolut originäre Neu-Komposition, in der man seine tiefe Verbundenheit mit Schumann permanent spürt. Interpretatorisch stellen sich unseren sieben Sänger*innen auf der Bühne ganz eigene Herausforderungen, sie blicken auf Schumann durch die Brille von Christian Jost. 

Unsere Kollegin Pauliina Tukiainen hat in einer Masterclass mit unseren Studierenden an der Originalgestalt von Heines und Schumanns Liederzyklus gearbeitet. Das war eine großartige und lehrreiche Erfahrung für uns alle und im besten Sinne ein gelungenes Bespiel für einen wertvollen künstlerischen Austausch verschiedener Sparten – so wie es an einer Kunstuniversität sein soll.

Das „lyrische Ich“ wird in eurer Produktion auf sieben Sänger*innen unterschiedlicher Stimmlagen verteilt. Was macht diese Vervielfachung der Protagonist*innen mit dem Werk – sowohl inhaltlich als auch musikalisch? 

Florentine: Inhaltlich übertragen wir durch die Vervielfachung des Ichs das Thema eines Einzelnen auf eine ganze Gesellschaft. Einerseits scheinen alle Charaktere erstmal sehr individuell, andererseits gibt es Momente, in denen unsere Figuren fast miteinander verschmelzen und „aus einem Mund“ sprechen bzw. singen. Die Emotion eines Menschen wird somit zur kollektiven Erfahrung – und umgekehrt. Das „Sichtbar machen“ unterschiedlicher innerer Anteile ein- und derselben Person ist in der Psychologie mittlerweile ein gängiger Ansatz, um einen Menschen in seiner ganzen Bandbreite zu verstehen. Somit bildet unser Ensemble teilweise eine Ich-Truppe, die mehr gemeinsam hat, als sie glaubt. Andererseits haben wir in unserer hochindividualisierten Gesellschaft doch oft den Eindruck, ganz allein im Sinne von „besonders“ mit unseren Emotionen und speziellen Erfahrungen zu sein, allein unter lauter Egos. Da kann die Einbindung in ein Kollektiv manchmal sehr tröstlich sein.

Kai: Christian Jost kuratiert seit vielen Jahren die Reihe „2x hören“ des Berliner Konzerthauses, bei der es eben genau darum geht, ein zumeist unbekanntes zeitgenössisches Werk zweimal zu hören und im Gespräch mehr über die Musik zu erfahren. O-Ton: „Seien Sie überrascht, wie sehr sich Ihre Ohren geöffnet haben, wenn das Stück zum zweiten Mal erklingt.“ Ohne vorgreifen zu wollen, kann ich verraten, dass wir in unserer Produktion nun Josts Komposition der Dichterliebe ebenfalls zweimal hintereinander begegnen. Durch die doppelte szenische Umsetzung des ursprünglich rein musikalisch konzipierten Werkes erleben wir einen Großteil der Lieder von unterschiedlichen Darsteller*innen gesungen. Die Lieder „klingen“ also verschieden und zusätzlich bedingt der variierte szenische Kontext – ohne zu viel zu verraten – eine völlig veränderte Hör-Perspektive. In diesem Sinne möchte ich das Zitat des Berliner Konzerthauses erweitern: „Seien Sie überrascht, wie sehr sich Ihre Augen und Ohren geöffnet haben, wenn das Stück zum zweiten Mal erklingt.“ Unsere Produktion baut also neben erzählerischer Stringenz auf eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten und Brüchen (von Heine über Schumann, über Jost bis hin zu uns), die unser Publikum herausfordert und im besten Sinne irritiert zurücklässt – eine unwägbare Spurensuche aus einem kalten Heute heraus tief hinein in die deutsche Romantik des 19. Jahrhunderts.

Das 2024 neu gegründete Ensemble für zeitgenössische Musik der Universität Mozarteum wird erstmals Teil einer Opernproduktion eurer Klasse sein. Welche Synergien ergeben sich da?

Kai: Das letzte Sommersemester war der Startschuss für das neue Ensemble. Neben einem Konzert mit sieben Uraufführungen von Kompositionsstudierenden haben wir drei Masterkonzerte von Absolvent*innen des Studienganges Komposition bestritten. Im Sommer waren wir mit dem Ensemble beim Festival „La Chigiana“ in Siena zu Gast. Ich freue mich, dass die neue Formation so positiv angenommen wird: Es gibt bereits Einladungen von Wien Modern und weiteren österreichischen und internationalen Festivals. Neben unserer Hauptaufgabe, für die Studierenden unseres Kompositionsdepartments da zu sein, freue ich mich, wenn das Ensemble auch an anderen Aufgaben wachsen und reifen kann. 

In diesem Studienjahr haben sich beide Musiktheater-Produktionen unserer Klasse angeboten: Neben der Dichterliebe wird das Ensemble im Juni auch die Uraufführung des neuen Musiktheaterwerkes des französischen Komponisten Yann Robin auf ein Libretto von Elisabeth Gutjahr bestreiten. Für das Ensemble ist es eine sehr wertvolle Erfahrung, mit arrivierten Komponist*innen zusammenarbeiten zu können. Umgekehrt ist es wichtig, dass man auch „von außen“ die ernsthafte Auseinandersetzung an der Universität Mozarteum mit zeitgenössischem Repertoire wahrnimmt.

Termine

  • 24.1.2025
    19:00 Uhr
    Max Schlereth Saal
    Dichterliebe
    Florentine Klepper inszeniert den berühmtesten Liederzyklus der deutschen Romantik als großes Ensemblewerk und begibt sich mit den Studierenden der Opernklasse auf Spurensuche an den Abgründen der Seele, Liebe, Einsamkeit und menschliche Endlichkeit.
  • 25.1.2025
    16:00 Uhr
    Max Schlereth Saal
    Dichterliebe
    Florentine Klepper inszeniert den berühmtesten Liederzyklus der deutschen Romantik als großes Ensemblewerk und begibt sich mit den Studierenden der Opernklasse auf Spurensuche an den Abgründen der Seele, Liebe, Einsamkeit und menschliche Endlichkeit.
  • 27.1.2025
    19:00 Uhr
    Max Schlereth Saal
    Dichterliebe
    Florentine Klepper inszeniert den berühmtesten Liederzyklus der deutschen Romantik als großes Ensemblewerk und begibt sich mit den Studierenden der Opernklasse auf Spurensuche an den Abgründen der Seele, Liebe, Einsamkeit und menschliche Endlichkeit.
  • 28.1.2025
    19:00 Uhr
    Max Schlereth Saal
    Dichterliebe
    Florentine Klepper inszeniert den berühmtesten Liederzyklus der deutschen Romantik als großes Ensemblewerk und begibt sich mit den Studierenden der Opernklasse auf Spurensuche an den Abgründen der Seele, Liebe, Einsamkeit und menschliche Endlichkeit.