Über Räume und Zwischenräume in Mozarts „Le nozze di Figaro“

13.06.2024
Interview
© Thorben Schumüller

Mozarts Le nozze di Figaro wird am 18. Juni im Max Schlereth Saal der Universität Mozarteum Premiere feiern. Der Regisseur der Produktion, Alexander von Pfeil, und der Bühnenbildner Thorben Schumüller im Gespräch über den Entstehungsprozess, Inspirationen und die großen Themen der Oper: Hierarchien, Machtverhältnisse, Geschlechterrollen…

Thorben, du hast 2022 dein Studium Bühnengestaltung an der Universität Mozarteum abgeschlossen, wie kam es zur erneuten Zusammenarbeit mit Alexander von Pfeil und dem Operndepartment? 

Thorben: 2020 haben Alexander und ich zum ersten Mal zusammengearbeitet, an Mozarts La clemenza di Tito. Seit einem Jahr bin ich freiberuflich unterwegs und hoffe, mit diesem Figaro nun noch einen fulminanten Abschluss meiner Salzburger Zeit abzuliefern. Gerade als Berufsanfänger ist es schwierig, in der Opernbranche Fuß zu fassen. Die Möglichkeit zu bekommen, in einem solch großen Raum mit großem Ensemble große Oper zu machen ist toll! Ein Stück wie Mozarts Le nozze di Figaro wird einem ja am Beginn der Karriere nicht gerade so hingeworfen! Da landen doch eher kleinere Angebote auf meinem Schreibtisch (lacht). Gerade deshalb ist es tatsächlich ziemlich cool, sich in diesem Umfeld hier nochmal ausprobieren zu dürfen.

Alexander: Thorben hat ein großartiges Diplom über Kafkas Der Bau gemacht. Schon damals hatte ich ein Urgefühl, dass die Atmosphäre von Figaro etwas mit Kafka zu tun hat – das Labyrinthische des Stückes ist sehr kafkaesk, die Bühne muss dieses Verworrene mit atmen. Es braucht einen Raum für diese vielen kleinen Szenen, die unzähligen „Verhedderungen“ bedürfen einer bildnerischen Idee. 

Wie können wir uns eine erste Annäherung zwischen Regie und Bühnenbild zu Beginn einer neuen Produktion vorstellen? 

Thorben: Gerade bei dieser Produktion war das sehr speziell und individuell, weil wir unter extremen Zeitbedingungen arbeiten mussten. Bei Figaro konnten wir die Findungsphase ein wenig überspringen, weil Alexander bereits Ideen mitgebracht und den Kafka-Bezug ins Spiel gebracht hat. Im Probenprozess lösen sich momentan viele Entscheidungen ein, die wir in der Entstehung oft instinktiv und mit wenig Kontakt treffen mussten.

Alexander: Das Gute an der wiederholten Zusammenarbeit ist: Man kennt die Arbeitsweise des anderen, man kann sich Assoziationsbrocken hin und herwerfen, ohne lange Erklärungen, und weiß, dass der andere damit weiterdenken und -arbeiten kann. Ich hatte von Vornherein das Vertrauen, dass Thorben mit wenigen Brocken viel anfangen kann, dass wir beide eine sehr ähnliche Sichtweise auf die Entwicklung des Stücks haben – auch durch unsere intensive gemeinsame Arbeit am Titus vor einigen Jahren. Natürlich ist der Figaro ein völlig anderer Stoff, ein ganz anderes Genre. Und trotzdem sind die gesellschaftlichen Fragen, die da verhandelt werden, in beiden Opern ähnlich: Es geht um Macht, um deren Rechtmäßigkeit, also um große gesellschaftspolitische Themen zur damaligen Zeit, die aber heute genauso Gültigkeit haben. 

Woher nehmt ihr eure Inspiration, sowohl für die Regie als auch für das Bühnenbild? 

Alexander: Eine erste Spurensuche begann bei mir mit der erneuten Lektüre von Beaumarchais´ Figaro-Trilogie. Ein Aspekt dabei ist das Ausufernde, die vielen Handlungsstränge und Parallelgeschichten, ein Gefüge aus widersprüchlichsten Charakteren, ähnlich konzipiert wie ein Dostojewski-Roman. Die Erzähltechnik ist modern, ein Panorama voller Details, welches in der überaus komplexen vielschichtigen Partitur Mozarts seine – geniale – Entsprechung findet.

Fragen tauchen auf: Wo fängt die Geschichte an, wo hört sie auf, wo geht sie hin und wohin hätte sie noch gehen sollen, wäre der Autor nicht darüber gestorben? Beispielsweise liegt über der leidenschaftlichen Zuwendung Cherubinos zur Gräfin ein Schatten – in La mère coupable (der Figaro-Fortsetzung bei Beaumarchais) ist Cherubino in den Tod gegangen: Nach der Geburt eines unehelichen Kindes von Cherubino fühlt sich die Gräfin schuldig und möchte Cherubino nicht mehr sehen und schwört ihm ab. Kleine Details aus der Schauspielvorlage fördern das Verständnis für Sinnzusammenhänge. Z.B. wird der Graf als Groß-Corregidor von Andalusien bezeichnet, er ist also der oberste Richter über ein riesiges Territorium und verfügt demnach über große Macht, die er offenkundig für eigene Zwecke zu nutzen weiß. Das führt uns zu einem zentralen Kafka-Baustein im Stück: Es gibt einen Prozess (der fast in einer ödipalen Katastrophe endet, denn Figaro muss, als Ausgang des Prozesses, eigentlich seine Mutter – unerkannter Weise – heiraten); in der Oper durfte dieser Prozess aus Zensurgründen ebenso wenig gezeigt werden wie der berühmte Figaro-Monolog im 5. Akt, der die achterbahnartige Biografie Figaros in dieser vor Missständen strotzenden Epoche offenbart: Figaro, sprühend von Geist und Begabung, darf froh sein, wenn er als Barbier oder Kammerdiener nicht vor die Hunde geht. Und da sind wir beim Hauptkonflikt des Stückes, dem Verhältnis zwischen dem Herrn und seinem Knecht. Der Herr begehrt die Braut des Knechts. Was tun? Es bleibt dem Knecht ein Schwanken zwischen Aufbegehren und Ohnmacht.

Thorben: Unsere Bühne für Figaro sehe ich wie ein großes Spielbrett. Der Bühnenraum gibt uns auf den ersten Blick gar nicht viel Konnotation, wo genau wir gerade sind. Er wird erst durch das Spiel der Figuren angereichert und gibt Aufschluss über die Veränderung von Beziehungen und Hierarchien während einzelner Szenen und durch das ganze Stück hindurch. Die Bühne ist wie ein eigener lebendiger Organismus, gegen den die Figuren anarbeiten müssen, in dem sie aber auch ganz herrlich ihre Intrigen und Spielchen ausleben können.Wir hatten spannende Gespräche über Räume und Zwischenräume, über positive und negative Räume und die Frage: Was ist das eigentlich für ein Raum, den Susanna und Figaro da in der ersten Szene einrichten? Rechts der Herrscher, link die Herrscherin – wohnt das Paar dann nicht in der Wand? Wo ist eigentlich ein „Ort“, was passiert „zwischen“ den Orten? Wie stabil sind diese Räume? Brechen sie vielleicht zusammen, oder werden verdrängt von anderen? Das sind sehr abstrakte Fragestellungen, wie man Hierarchie in einem Bühnenbild zeigen kann. Diese Überlegungen schwingen in meinem Entwurf mit. 

Wie holt ihr Themen wie „Das Recht der ersten Nacht“, oder hierarchische Strukturen der damaligen Zeit ins Heute? 

Alexander: Im Stück ist das „Recht der ersten Nacht“ nur ein Rand-Aspekt. Es gab dieses Recht zu der Zeit nicht. Es gab höchstens aristokratische Einzeltäter, die ihre Machtposition nach eigenem Gutdünken ausgenützt haben, aber krasse Missbräuchlichkeit passiert heute genauso wie damals. Es gibt nicht umsonst die #MeToo-Debatte, es gibt nach wie vor ein Oben und Unten, es gibt moderne Hierarchien. In der Oper gibt es ganz krasse, teilweise undurchlässige Zustände von Klassendenken. Wir versuchen eine Sphäre zu schaffen, die weder historisch ist, noch eins zu eins im Heute spielt. Vielmehr geht es uns um eine „erfundene Realität“ im Sinne von Giuseppe Verdi. Wir erzählen den Kosmos eines Schlosses, wir haben eine Hierarchie von Bediensteten und denjenigen, die dort das Sagen haben. 

Wie ordnet ihr das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ein? 

Alexander: Figaro ist ein Stück über eine böse, männerdominierte Ordnung. Es gibt den Leitwolf, der glaubt, dass er alles haben kann. Interessanterweise ist der Graf grundsätzlich ein aufgeklärter Typus, der sich eben nicht mit Gewalt das nimmt, was er möchte. Der große Geist Mozart hat in jedem seiner Stücke dafür gesorgt, Menschen nicht ganz krass in Schwarz oder Weiß einzuteilen. Bereits in seinem Fragment Zaide sagt eine Figur „Ich bin so bös als gut“ – diese Shakespear´sche Ambivalenz zeichnet auch die Figur des Grafen aus: Er ist nicht nur böse oder nur Triebtäter, sondern in erster Linie einfach wahnsinnig verliebt. Er kann keiner Frau widerstehen, versucht wie ein Kind, das zu bekommen, was er möchte, und versteht nicht, wenn jemand nicht mitmacht.

Thorben: Er ist an einigen Stellen vielleicht selbst auch mal Opfer eines Systems, das er ja bedienen muss, wie alle anderen und in dem jeder eine klare Rolle einnehmen muss.

Alexander: Man kann sagen, es ist die Rache der Frauen: Nachdem sie versuchen, den Spieß im Rahmen ihrer nächtlichen Kleidertauschaktionen umzudrehen. Ganz nüchtern betrachtet sind das schreckliche Manipulationen, in den Kleidern der anderen jemanden zu verführen und im Schutze der Nacht nahe zu kommen. Das sind alles sehr gefährliche Liebschaften! Und um Falstaff zu zitieren: „Tutti gabbati!“ Es gehen alle mit seelischen Blessuren aus dem großen vielstündigen Liebeskampf hinaus.

Wie komödiantisch wird euer Figaro? 

Alexander: Komödie ist ja immer am komischsten, je ernster man sie nimmt – das ist ein altes Theatergesetz. Eigentlich ist eine Komödie eine Tragödie ohne bösen Ausgang, mit einem Happy End sozusagen. Wobei das Happy End des Figaro ein sehr fragwürdiges ist. Ich glaube, wenn man jeden Moment tief empfindet, wird es tragisch und komisch.

Thorben: Bei mir geht in dieser Hinsicht die Überforderung schon beim Lesen des Librettos los: Wer weiß nun eigentlich von welchem Plan, welcher Plan hat sich geändert? Wer weiß noch nicht davon, dass sich der Plan geändert hat? Das ist alles so verkrampft und durcheinander, bekommt beim Lesen manchmal eine unfreiwillige Ulkigkeit. Man muss dahinter blicken und fragen, wer macht was aus welcher Motivation? Wir dröseln das komplett auseinander und kommen dadurch weg von dieser plakativen Ulkigkeit.

Alexander: Wir hinterfragen, was es bedeutet, dass sich eine Gräfin verkleiden muss, um im Kleid ihrer Bediensteten ihrem geliebten Ehemann nahezukommen. Welche Überwindungen gehören da dazu? Was passiert mit den Körpern und dem Inneren der Menschen? Genauso bei Susanna: Eigentlich ist es ihr Hochzeitstag, an dem sie diese grausamen Spiele spielt und sie ihren zukünftigen Ehemann im Kleid ihrer Herrin quasi verführt. Das Geheimnis ist tatsächlich: Je ernsthafter man damit umgeht, umso glaubhafter wird die Geschichte, umso besser kann man folgen.

Thorben: Und trotzdem wird es auch in unserer Inszenierung Situationen mit Witz geben, es gibt so viel Absurdes! Wir versuchen einfach, die sogenannte „Witzfigur“, die es stückgeschichtlich ja gibt – der Graf als Vertreter des Adels – auszuhebeln und dadurch das alberne Sich-Lustig-Machen über etwas oder jemanden zu entkräften, und dafür ernsthaft lustige Situationen zu zeigen.

Alexander: Oft geht es dann um Aberwitz und wieder sind wir bei kafkaesken Momenten, die aus der Realität entstehen und erst beim genauen Hinschauen unglaublich humorvoll werden.

Zum Abschluss noch eine praktische Frage: Das Ensemble ist durch die Doppelbesetzungen sehr groß. Wie schafft ihr es, eure Vorstellungen und Ideen den über 30 Mitwirkenden so verständlich zu machen, dass alle Sänger*innen diese bis zur Premiere verinnerlicht haben und auch tatsächlich auf die Bühne bringen?

Alexander: Man muss Doppelbesetzungen und das ganze Ensemble grundsätzlich als ein Team denken. Das beginnt bei uns schon zu Beginn des jeweiligen Semesters mit dem Körpertraining mit Martina Peter-Bolaender. Die Studierenden lernen dabei nicht nur ihren eigenen Körper und dessen Ausdrucksweisen kennen, sondern auch die Körper der anderen – und deren Impulse – und lernen, als Ensemble zu arbeiten und aufeinander zu reagieren. Natalie Forester führt das dann im Rahmen ihres Schauspielunterrichts fort. Die Doppelbesetzungen arbeiten in kleinen Teams zusammen, die sich gegenseitig coachen und spiegeln können. Wir sind ein bisschen wie eine große Fußballmannschaft mit Ein- und Auswechselspieler*innen, die auch mal außerhalb ihrer Rolle einspringen müssen, wenn jemand nicht anwesend ist. Ich versuche, unsere Studierenden zu multiplen Spieler*innen auszubilden, was ihnen auch auf ihrem weiteren Weg als Sängerschauspieler*innen helfen kann. Wir wollen allen Beteiligten vermitteln, dass es grundsätzlich wichtig ist, konstruktiv miteinander zu arbeiten, einander zu helfen und zu stützen.

Die Sänger*innen müssen unsere Ideen ja nicht nur verstehen, sondern sie bereichern sie mit ihren persönlichen Horizonten. Erst durch die Darsteller*innen werden diese Ideen zum Leben erweckt. Wir haben ein kosmopolitisches Ensemble, das einen großen Erfahrungspool aus vielen Ecken der Welt mitbringt. Der Inszenierungsprozess ist ein großes Miteinander.

Thorben: Für mich ist der Anfang der Probenphase immer sehr wichtig. Schafft man es, alle im Team auf dieselbe Wellenlänge zu bekommen, sind deren Ideen, die dann spielerisch kommen, oft Selbstläufer, weil alle im selben Boot sitzen und dieselbe Atmosphäre verinnerlicht haben. Dadurch wird es viel mehr als nur das, was das Regieteam umsetzen möchte.

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