Die Migration der Dinge
Das im Juli erschienene Theorie- und Methodenhandbuch „Musik und Migration“ widmet sich in 16 Themenkomplexen den mannigfaltigen Aspekten, Phänomenen, Wechselwirkungen und Perspektiven im Forschungsfeld zwischen Musik und Migration.
Musik und Migration
Ein Theorien- und Methodenhandbuch
Die Publikation steht HIER open access zur Verfügung
Wolfgang Gratzer (Universität Mozarteum), Susanne Scheiblhofer sowie Nils Grosch (Paris Lodron Universität Salzburg) und Ulrike Präger (Boston University / College of Fine Arts) sind die Herausgeber*innen der im Sommer auf Deutsch und Englisch erschienenen Publikation „Musik und Migration“, einem umfänglichen Grundlagenbuch für zukünftige Forschung, an dem insgesamt 24 Autor*innen mitarbeiteten. Das gemeinsame Anliegen, eine Plattform zu bieten, um Musik und Migration in transdisziplinären Zusammenhängen zu beforschen, hatte Wolfgang Gratzer und Nils Grosch 2014 zur Gründung der interuniversitären Forschungsinitiative Musik und Migration und zur Etablierung der gleichnamigen Buchreihe motiviert: Beide beobachteten, dass inner- und außerhalb der Universitäten große Unsicherheiten herrschten, wie dieses Thema sinnvoll beforscht werden könnte. Das Methodenhandbuch soll diese Unsicherheiten beheben, bewusst eine breite Leser*innenschaft ansprechen und Möglichkeiten der Forschung zeigen, die in den Kultur- und Geschichtswissenschaften bereits Standard sind, im Hinblick auf Musik aber noch fehlen. Bereits im Vorwort wird daran erinnert, dass Migration und Mobilität zu den Wesensmerkmalen humaner Existenz zählen – ein explizites Entgegenwirken der negativen Besetzung des Begriffs der Migration und der Darstellung von Migration als Gefahr, um Abgrenzung zu rechtfertigen. „Wir haben uns darauf verständigt – entgegen dem weit verbreiteten Verständnis, Migration bezeichne allein Fluchtbewegung –, den Begriff entsprechend der ursprünglichen, allgemeineren Wortbedeutung weiter zu fassen und auch Phänomene wie Bildungs-, Arbeits-, Heiratsmigration und weitere Formen der Migration mit in den Blick zu nehmen“, sagt Wolfgang Gratzer. Susanne Scheiblhofer ergänzt: „Uns ist es ein großes Anliegen, mit Vorurteilen aufzuräumen oder sie zumindest in Frage zu stellen. Wir möchten den Menschen das Werkzeug in die Hand geben, um selbst Fragen stellen zu können.“
Zwischen Musik und Migration besteht ein essenzielles, dynamisches Verhältnis: Beide Begriffe ändern sich ständig und werden laufend ausverhandelt. „Musik und Migration spielen in allen Bereichen unseres Lebens und unserer Kultur eine gemeinsame Rolle. Wenn ich mich als Mensch von einem Ort an den anderen bewege, nehme ich meine gesamten kulturellen Erfahrungen mit und teile sie mit anderen Menschen, lerne andere kulturelle Traditionen kennen. Und nehme auch diese Lernerfahrung wieder mit, wenn ich zurückgehe“, erklärt Susanne Scheiblhofer und verweist auf die lange gemeinsame Geschichte der Korrelation zwischen Musik und Migration: Bereits im Mittelalter war die „Vaganten-Musik“, die Musik fahrender Leute, präsent, auch der Mönch von Salzburg gehörte dazu. Fahrende Opern-Truppen zogen mit sogenannten „Kofferarien“ durch Europa. Lieder und Gesangsbücher, die im 11. und 12. Jahrhundert entlang des Jakobwegs populär waren, „migrierten“ mit den Menschen und verbreiteten sich. Und die Salzburger Hofmusik war im 18. Jahrhundert mit etlichen „Auswärtigen“ besetzt, um mit den besten Musiker*innen konkurrenzfähig zu bleiben. Daraus ergab sich auch ein besserer Verdienst, wie Wolfgang Gratzer erklärt. „Gerade in Salzburg ist dieses Wechselverhältnis gut greifbar. W.A. Mozart war drei Jahre lang auf der „Westeuropa-Reise“ und wir können mit guten Gründen sagen, Mozart hat auf diesen Reisen viel gelernt. Mozart schrieb am 11. September 1778 aus Paris an seinen Vater: ‚Ohne Reisen ist man wohl ein armseliges Geschöpf‘.“ Auch für ein anderes Beispiel ist Salzburg gut bekannt, Susanne Scheiblhofer hat sich damit auch in ihrer Dissertation beschäftigt: „The Sound of Music“, die Geschichte der singenden Familie, die vor den Nazis in die USA flüchtete, traditionelle Musik aus Österreich mitnahm und sich als Chor erfolgreich eine neue Existenz aufbauen konnte. „Das wurde in Österreich wiederum als Film vermarktet, die Schauspielerin Mary Martin sah diesen Film und dachte, ‚das will ich in einer englischen Version spielen!‘. Und so wanderte dieses kulturelle Produkt zurück in die Staaten, Richard Rogers machte daraus – mit komplett neuer Musik – ein Musical, das schließlich um die ganze Welt reiste. Auch wenn wir als Österreicher*innen damit wenig vertraut sind: „The Sound of Music“ zeigt wunderschön, dass sich Musik lässt nicht fixieren lässt, sie bewegt sich immer mit den Menschen mit.“
Dass Musik nicht nur auf Reisen oder im Rahmen von selbstgewählter Migration global in Bewegung ist, zeigen auch die vielfältigen Auseinandersetzungen der Autor*innen. Anna Papaeti und M. J. Grant beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit verantwortungsvollen Forschungsmethoden, wenn man mit Menschen mit Fluchterfahrungen arbeitet. Hier braucht es ein gewisses Sorgfaltsbewusstsein und auch Wissen darum, dass Betroffene unter Umständen Konsequenzen wie Retraumatisierung erleben können, erwähnt Gratzer. Scheiblhofer konkretisiert: „Ich finde es ganz wichtig, dass Papaeti und Grant die Perspektive, die Position der Forschenden miteinbezogen haben: Es geht um die Gefahr, die beforschten Menschen oder sich selbst zu (re)traumatisieren. Letzteres nennt sich Second Hand Trauma. Forschende, vor allem jüngere, müssen darauf vorbereitet werden, sich auch um sich selbst zu kümmern, wenn man sich mit sensiblen Themen auseinandersetzt.“ Diesen Aspekt behandelt André de Quadros und setzt sich für den humanitären Zugang zur Arbeit mit Flüchtlingen ein. Er plädiert dafür, Flüchtlinge nicht nur in ihren Camps zu besuchen und „Helikopterforschung“ zu betreiben. „Musik und Migration“ hat auch den Anspruch, bestehende Narrative zu hinterfragen, wie Susanne Scheiblhofer erzählt: „Wir haben einen tollen Beitrag von Nils Grosch zu kultureller Mobilität und Musik im Exil, mit Biografien von Künstler*innen und Komponist*innen, die vom Nationalsozialismus vertrieben wurden. Hier zeigt sich oft das Narrativ, dass es durch die Migration zu einem Stilbruch kam. Ist das so? Man kann nicht sagen, ob Kurt Weill die gleiche Musik geschrieben hätte, wäre er in Europa geblieben.“ Aus den Bereichen Musik, Pädagogik und Systematischer Musikwissenschaft nähern sich Katarzyna Grebosz-Haring und Magnus Gaul den Akkulturationsprozessen bei Jugendlichen mit qualitativen-quantitativen Forschungsmethoden. Ulrike Präger beleuchtet in zwei Beiträgen Musik und Migration aus einer ethnologischen Perspektive. Schlüsselbegriffe wie Ethnographie, Auto-Ethnographie oder Musicking werden behandelt oder die Frage, was es bedeutet, teilnehmende Beobachtung zu machen. Michael Parzer setzt sich mit Perspektiven der Migrant-Business-Forschung auseinander und wie Menschen sich mithilfe von Musik ihre wirtschaftliche Existenz nach einer Verlagerung des Lebensmittelpunkts neu aufbauen. Die Medienwissenschaftlerinnen Ricarda Drüeke und Elisabeth Klaus bieten methodische und theoretische Perspektiven an, wie man solche Beobachtungen in solide Forschung übersetzen und sich systematisch mit bestimmten Fragen beschäftigen kann. Gratzer diskutiert in seinem Beitrag Vorteile und Herausforderungen, ein und dasselbe Migrationsthema mehrperspektivisch – also von verschiedenen Seiten, auch aus der Sicht der beforschten Menschen – zu beforschen.
„Die Autor*innen des Handbuchs mobilisieren die Aussagekraft jener Evidenz, die aus dem Zusammenspiel von Theorien und Methoden erwächst, um neue Wege aufzuzeigen, den Stimmen der Migration in einer modernen, aufgewühlten und verunsicherten Welt Aufmerksamkeit zu geben“, hält Philip V. Bohlman im Vorwort fest. Diesen Wunsch in Bezug auf die Wirkung der Publikation teilen auch die Herausgeber*innen, in Teilen beginnt er sich mit dem Erscheinen bereits zu erfüllen: „Wir haben uns bewusst dafür entschieden, unser Buch in erster Linie open access zu veröffentlichen, es wird bereits in aller Welt heruntergeladen“, freut sich Wolfgang Gratzer. „Ein schönes Beispiel für eine ‚Migration der Dinge‘: dass sich diese Vorschläge, diese Ideen, diese Reflexion und auch diese Kritik sehr rasch in alle Welt verbreiten können.“
(Ersterschienen in den Uni-Nachrichten / Salzburger Nachrichten am 7. Oktober 2023)